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Fragenübersicht Ist das politische System der USA in weiten Teilen von einer Art "politischen Religion" geprägt?
1 - 9 / 9 Meinungen
21.01.2021 12:04 Uhr
Das ist ein sehr interessanter Gedanke, über den ich andernorts auch schon diskutiert habe, ich freue mich deshalb sehr über diese Umfrage. Ich hole mal ein bisschen aus.

Den meisten von uns wird das "Böckenförde-Diktum" ein Begriff sein. Die These stammt aus einem Aufsatz, der die Staatsentstehung als Säkularisationsprozess nachzeichnete. Der Hauptsatz seines Diktums lautet:

"Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann."

An diese (aus meiner Sicht) richtige These lohnt es sich, anzuknüpfen. Wenn die Staatenbildung ein Säkularisationsprozess war und der moderne Staat den Endpunkt dieser Entwicklung darstellt, stellt sich die Frage, was eigentlich danach passiert. Bleibt es bei der Säkularisation? Spielt Religion gar keine Rolle mehr im Staats- und Gesellschaftsleben? Oder nur noch im Gesellschaftsleben? Finden sich vielleicht Mischformen?

Meine Vermutung ist, dass sich neue Mischformen entwickeln. Jede Idee von Recht - egal ob positivistisch oder naturalistisch - geht immer von einem Fixpunkt für die Legitimation von Recht aus. Positivisten denken an eine Grundnorm, Naturalisten ans Naturrecht. Beiden ist gemein, dass sie etwas zur Voraussetzung von Recht und Staat machen, was nicht hundertprozentig rational hergeleitet werden kann. Auch eine Grundnorm als absoluter Fixpunkt ist nicht völlig rational.

Und in diesem Punkt ähneln alle Verständnisse von Staat und Recht letzlich doch auch Religionen, die auch eine Grundnorm oder ein naturalistisches Vorverständnis haben: Die religiösen Hauptwerke sind zum einen das geschriebene Regelwerk einer Religion, vermitteln aber auch die moralischen Grundwerte dieser.

Weil die Grundlage des Rechts aber nicht hundertprozentig rational erklärbar ist, ist es möglich, dass sich quasi-transzendentale Prozesse entwickeln. Die USA ist da ein sehr gutes Beispiel: Ein Land mit sehr alten staatlichen Strukturen und mit sehr alter Verfassung. All die Verfassungstraditionen haben sich mit der Zeit zu einer Ersatzreligion entwickelt und diese erfüllt einen Zweck: Sie gibt dem Staats- und Normensystem eine tiefere Legitimation.

In Deutschland passiert ähnliches, das Grundgesetz ist mit den Jahren immer weniger angreifbar geworden, ist als Grundnorm inzwischen mehr oder weniger unumstritten und im politischen Diskurs wird zunehmend mit unserer Verfassungstradition argumentiert.

Der Unterschied zur Religion ist dann, dass der transzendente, übernatürliche Moment fehlt. Aber ansonsten sehe ich da schon einige Parallelen.

21.01.2021 12:06 Uhr
Bei einem so hervorragenden Einstiegsbeitrag ist alles danach eigentlich überflüssig.
21.01.2021 12:11 Uhr
Die USA sind als Demokratie so alt, dass sie noch besonders mit Elementen des Alten behaftet sind. So erscheint uns heute vieles als unzureichend im demokratietheoretischem Sinne und der Präsident ist mit Macht ausgestattet, die an einen Monarchen erinnert. Als die USA sich bildeten, konkurrierte man eben noch nicht mit anderen Demokratien, sondern mit den noch Monarchien. Dementsprechend wurde das Präsidentenamt pompös aufgeladen. Heute zeigt sich, dass dies hochproblematisch sein kann und man wünscht den USA eigentlich, dass sie sich reformierbar zeigen. Ich habe da leider Zweifel.
21.01.2021 12:19 Uhr
Ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, was hier mit quasi-religiös gemeint ist. Die im Hintergrund zitierten Elemente sehe ich eher als charakteristisch für ein anderes Thema, das wir kürzlich hier hatten: Ob Menschen stets zu einem Personenkult tendieren. Die Zeremonien erinnern mich eher an Thronfolgeübergaben oder Hochzeiten in Monarchien.

Religion braucht an sich keine bombastischen Zeremonien, Religion kann auch jeder für sich selbst ausüben. Bombastische Zeremonien gibt es allenfalls in organisierten Religionen, und auch da dient das Tam-tam eher den Hierarchien als der Religion selber. Womit wir wieder beim Personen- bzw. Führerkult wären.

Was den Eingangsbeitrag angeht: Im Unterschied zu religiösen Schriften können die Grundnormen der Verfassung durch Menschen - und zwar demokratisch gewählte, nicht von Gott auserkorene - geändert werden. Das ist ja auch schon oft genug geschehen.
21.01.2021 13:56 Uhr
Mit "politische Religion" meinte ich überhaupt nicht mal das Pompöse der politischen Inszenierung in den USA, sondern eher den Effekt, den ratio legis im Eingangsbeitrag geschildert hat.

In den USA wird Politik ja nicht so "nüchtern" betrieben, wie in Deutschland. In Deutschland ist Politik ja eher eine Art Verwaltungsvorgang mit ein bißchen staatlicher Symbolik, aber kaum irgendeiner transzendenten Ebene. Deutschland hat keine irgendwie geartete "Mission", sondern bestenfalls politische Leitlinien und Grundkonstanten, die sich durch die Verankerung in der NATO und der EU ergeben.

In den USA jedoch fühlt man sich als Inbegriff der "freien Welt", als "leuchtende Stadt auf dem Hügel", wie Reagan das mal genannt hat. Und jegliche Präsidenten, egal ob Republikaner oder Demokrat, folgt diesen ja eher undefinierten Werten irgendwie nach und zollt ihm oftmals pathetisch in diversen Auftritten Tribut.

Dieses Bewußtsein, eine Mission zu vertreten oder zu eine Führungsmacht berufen zu sein, hat etwas Religiöses. Es ist ein US-amerikanischer Glaubensartikel, der einem mitunter schwer auf den Wecker geht. Aber ich glaube, dass selbst progressive oder sogar linke und sozialistische US-Politiker wie Bernie Sanders diese Glaubensartikel vertreten.

Natürlich ist das ökonomisch fundiert, aber nicht nur allein. Und es ist nicht nur Nationalismus, sondern "Nation" ist in den USA mehr oder weniger auch ein Synonym für den melting pot.
21.01.2021 14:41 Uhr
Die Inauguration eines US-Präsidenten wird auch als TV-Event mit einem Haufen Stars gefeiert. Und zwar mit einer Verklärung, die in Deutschland unzulässig wäre. Kaum jemand käme auf den Gedanken, in Deutschland eine Show zu machen, wenn ein Bundespräsident oder ein Bundeskanzler gewählt würde. Das wird hierzulande im Fernsehen höchstens als gesonderte Nachrichtensendung gebracht. Aber wohl kaum als Ankunft einer Art administrativen Heilsbringers gefeiert.

Das ist auch ein religiöses politisches Element in den USA.
22.01.2021 13:08 Uhr
@radiolyse
Für mich hat das alles nicht zwingend was mit Religion zu tun. Natürlich gibt es das in Deutschland nicht, aus offensichtlichen Gründen. Es gibt solches Tam-tam aber in anderen Staaten, die rein gar nichts mit Religion am Hut haben, aber umso mehr mit Führerkulten. Bestes Beispiel: Nordkorea.
22.01.2021 13:24 Uhr
Zitat:
@radiolyse
Für mich hat das alles nicht zwingend was mit Religion zu tun. Natürlich gibt es das in Deutschland nicht, aus offensichtlichen Gründen. Es gibt solches Tam-tam aber in anderen Staaten, die rein gar nichts mit Religion am Hut haben, aber umso mehr mit Führerkulten. Bestes Beispiel: Nordkorea.


@ImHasenbau

Deswegen schrieb ich auch "politische Religion". Sowas ist ja das unbedingte und unbezweifelte Für-Wahr-Halten bestimmter Dinge, die dann Glaubenssätze sind.

Führerkulte sind ja eine extreme Form politischer Religionen in diesem Sinne.
22.01.2021 13:38 Uhr
@radiolyse
Hier werden zwei Dinge vermischt, die nicht unbedingt im Zusammenhang stehen. Das Für-Wahr-Halten von Glaubenssätzen und der Pomp, der um Führungsfiguren veranstaltet wird.

Die Glaubenssätze gibt es auch in atheistischen Ideologien. Die wären dann auch "quasi-religiös". Ganz abgesehen davon, dass die Glaubenssätze, wenn sie zu unbequem werden, auch gerne mal fallengelassen werden, was in Religionen eher nicht der Fall ist.

Der Pomp hat wie gesagt m.E. nichts mit Religion zu tun, und ist ein Ausdruck von Personen- bzw. Führungskulten. Man fand und findet ihn auch um Führungsfiguren in sozialistischen Staaten (vielleicht sogar noch stärker und verbreiteter als in säkularen westlichen Staaten, so dass man sich mal fragen könnte, ob dort der Sozialismus vielleicht als eine Ersatzreligion fungiert.)

Beides findet man nicht exklusiv in den USA, und es lässt sich in vielen Staaten auch nicht aus der Begründung aus religiöser Tradition herleiten.
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